20.06.2024

Wertschätzung, Verantwortung, Rücksicht
– so viel steckt in Sozialem Lernen

 

Bunte Zettel wandern in einen kleinen Metallkoffer, rot, gelb, blau, grün, rund, quadratisch und in Wolkenformen. Elizabeth Adjei-Acheamfour packt gerade ihren Methodenkoffer für ein Training mit Neuntklässler*innen an einer Gesamtschule in herausfordernder Lage im Ruhrgebiet. Elizabeth ist Bildungsreferentin bei der Zukunftsstiftung Bildung und gehört zum Team des Peer-Learning-Programms BildungsTandems. Sie besucht regelmäßig die als Coachs teilnehmenden Schüler*innen und führt mit ihnen drei Trainingseinheiten durch, um sie fit zu machen für ihre neue Rolle.

Im Programm BildungsTandems werden Schüler*innen weiterführender Schulen zu Coachs für Viertklässler*innen und unterstützen sie beim Bildungsübergang. In festen Kleingruppen, den sogenannten BildungsTandems, treffen sich die Jugendlichen und Kinder regelmäßig während eines Schuljahres. Die Coachs gestalten diese TandemTreffen anhand eines Leitfadens in eigener Regie. Das Programm bietet die Möglichkeit, neue und selbstbestimmte Lernerfahrungen zu machen. Dabei werden nicht nur fachliche Kompetenzen entwickelt, sondern auch soziale Fähigkeiten durch eine hohe Eigenverantwortung gefördert. Die Grundschulkinder werden im Hinblick auf den anstehenden Schulwechsel individuell unterstützt, u.a. mit einem Fokus auf Leseförderung.

Durch die intensiven Trainings ist Elizabeth Adjei-Acheamfour nah dran an den Jugendlichen und bekommt mit, wie sich die Neuntklässler*innen im Laufe des Programms entwickeln: „Die Teilnahme ist zwar freiwillig, trotzdem kommt es vor, dass Jugendliche mitmachen, die gar nicht so genau wissen, ob die Zusammenarbeit mit Kindern aus der vierten Klasse etwas für sie ist“, erzählt sie. „In vergangenen Jahr hatten wir zum Beispiel zwei Neuntklässlerinnen dabei, die zu Beginn sehr skeptisch waren: Was machen wir in den TandemTreffen? Wollen die Kinder unsere Unterstützung überhaupt und wie reden wir mit denen?“

Soziales Lernen als Fokus der Zukunftsstiftung Bildung

Die Fragen der teilnehmenden Schüler*innen werden in den Programmen der Zukunftsstiftung Bildung aufgegriffen und sehr bald schon in echtes soziales Lernen durch Handeln umgewandelt. Soziales Lernen richtet sich dabei „(…) auf den Aufbau positiver Beziehungen und die Fähigkeit, das eigene Tun zu reflektieren und sich selbst und andere wahr- und anzunehmen. Soziales Lernen trägt dazu bei, Unterschiede untereinander zu respektieren und miteinander wertschätzend, rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst umzugehen.“ (ÖZEPS)

Dabei setzen die BildungsTandems an einer Herausforderung an, die sich deutlich durch alle Schulformen zieht, jedoch insbesondere an Schulen in herausfordernder Lage beobachtbar ist: Den Lehrkräften und Schulen fehlt es oftmals an Zeit und an Ressourcen, um wichtige außerfachliche Basiskompetenzen ihrer Schüler*innen in ausreichendem Maße einzuüben, zu fördern und zu stärken. Dies zeigen auch aktuelle Zahlen des Deutschen Schulbarometers 2024, einer repräsentativen Befragung von Lehrkräften in Auftrag gegeben durch die Robert-Bosch-Stiftung. Laut dieser Untersuchung gehört das Verhalten der Schüler*innen derzeit zu den größten Herausforderungen der Lehrkräfte (35%), noch vor der Heterogenität der Schüler*innenschaft (33%) und der Arbeitsbelastung (28%). Außerdem geben 69% der befragten Lehrkräfte an Schulen in herausfordernder Lage an, dass es unter ihren Schüler*innen Probleme mit physischer oder psychischer Gewalt gäbe. Interessante Ergebnisse liefert das Schulbarometer hinsichtlich der Frage, welches aus Sicht der Lehrkräfte die wichtigsten Kompetenzen seien, die Schule heute vermitteln muss, um Schüler*innen auf die Zukunft vorzubereiten: Hier nennen 68% soziale Kompetenzen und Selbstkompetenzen, weit vor der Vermittlung von schulischen Kompetenzen und Wissen (47%) und von kognitiven Fähigkeiten (31%) sowie gesellschaftlichen Werten (31%).

Diese Zahlen werden auch gestützt durch die aktuelle Trend-Studie „Jugend in Deutschland 2024“ von Schnetzer et al., in der die Autor*innen feststellen, dass die psychischen Belastungen von Jugendlichen auch nach dem Ende der Corona-Pandemie noch längst nicht abgeklungen sind. Junge Menschen in Deutschland erleben nach wie vor erhöhte Belastungen durch beispielsweise Stress, Erschöpfung und Antriebslosigkeit, Einsamkeit, Angstzustände und Selbstzweifel.

Während die besorgniserregende Ausgangssituation vielen Lehrkräften und Praktiker*innen zwar bewusst ist, fehlen gleichzeitig häufig die Zeiträume und Ressourcen, um Schüler*innen im Bereich der Sozial- und Selbstkompetenzen ausreichend und langfristig zu stärken und zu unterstützen.

Hier setzt die Zukunftsstiftung Bildung ganz bewusst an und legt den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Förderung dieser dringend benötigten Fähigkeiten, eingebettet in den Ansatz des Peer-Learnings. Im Sinne einer demokratiepädagogischen Herangehensweise werden diese jedoch nicht (nur) theoretisch vermittelt, sondern in den Programmen im aktiven Handeln erlebt, sodass sie nachhaltige Reflexions- und Veränderungsprozesse anstoßen.

Im Laufe des Programmjahrs waren es übrigens genau die beiden zunächst skeptischen Neuntklässlerinnen, die mit wachsender Begeisterung ihre TandemTreffen mit ihrer Kleingruppe an der Grundschule geplant und sich immer wieder spannende und hilfreiche Dinge für die Grundschulkinder überlegt haben. Elizabeth Adjei-Acheamfour: „Beide nehmen in diesem Jahr nun bereits zum zweiten Mal als Coachs teil und eine von ihnen möchte sogar Erzieherin werden. Bis zu den Bildungstandems wusste sie nicht, dass ihr das liegen könnte.“
In solchen Situationen erleben die Mitarbeiter*innen vor Ort an den Schulen immer wieder erstaunliche Lernprozesse, die sich durch das Setting ergeben und zu einer Reihe von Kompetenzen beitragen – häufig ohne das Gefühl, dass es sich hier um „schulisches Lernen“ handelt.

Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme

Der in unseren Programmen für die Förderung sozialen Lernens genutzte Peer-Learning-Ansatz fördert bei den teilnehmenden Schüler*innen in hohem Maße die Selbstwirksamkeit und die Verantwortungsübernahme. Schüler*innen übernehmen die Verantwortung für „ihre“ Grundschulkinder und treffen sich verbindlich in einem regelmäßigen Turnus mit ihnen, planen und gestalten ihre Treffen und fangen an, sich selbst als Rollenmodelle zu betrachten. Das bedeutet auch, dass sie lernen, Grenzen zu setzen, sich in Geduld mit den jüngeren Kindern zu üben, über die Rolle von Sprache und einen gelungenen Umgang miteinander zu reflektieren und erleben, dass sie im Laufe eines Schuljahres selbstverantwortlich und eigenständig Beziehungen gestalten und Entwicklungen positiv beeinflussen können. Für viele jugendliche Coachs, die teilweise selbst mit einer eher „schulmüden“ Einstellung in das Programm starten, lässt sich eine deutliche Zunahme von Selbstorganisation und Sozialkompetenz beobachten.

Elizabeth ist startklar für das nächste Training, schließt ihren Methodenkoffer und sagt lächelnd: „Wenn ich sehe, dass die Jugendlichen freiwillig ihre Freizeit opfern, um den Grundschulkindern zum Beispiel eine Führung durch die weiterführende Schule zu ermöglichen, ihnen extra noch Waffeln backen, damit sie sich wohlfühlen, dann weiß ich, dass das Programm eine positivere Verknüpfung zur Schule herstellen konnte.“

Andere unterstützen, ihnen zuhören und etwas beitragen können

Ein Beispiel aus dem Programm ZukunftsBande der Zukunftsstiftung Bildung zeigt, dass der Kontakt auf Augenhöhe in der Peer-Learning-Begegnung manchmal wahre Wunder bewirken kann…

Wenn die weiterführende Schule eine allerletzte Verwarnung ausspricht, in der das Wort „unbeschulbar“ vorkommt, dann ist die Lage wirklich ernst für die Betroffenen. So geschehen an einer Gesamtschule in Bottrop: Im vergangenen Jahr bekamen zwei fast 18-jährige Jungs der neunten Klasse den Hinweis, dass sie ohne Schulabschluss dastünden, wenn sie die Versetzung nicht schaffen. Eine Chance sahen sie in der Teilnahme am Peer-Learning-Programm ZukunftsBande der Zukunftsstiftung Bildung.

Im Programm ZukunftsBande arbeiten zwei Schüler*innen der 9./10. Klasse ein Schuljahr lang mit einem sogenannten Zukunftscoach aus einem Unternehmen oder der Hochschule/Universität zusammen. Als ZukunftsBande beschäftigen sie sich mit ihren persönlichen Zielen und den nächsten Schritten in Bildungsweg und Ausbildung – also mit der Frage: Was will ich und wie kann ich das erreichen? Azubis, Berufsanfänger*innen und Studierende schlüpfen in die Rolle der Zukunftscoachs, nachdem sie selbst bereits erfolgreich den Sprung in die Ausbildung, das Studium oder in die Berufswelt geschafft haben.

Programmleitung Lena Korte-Riepe ist begeistert davon, wie viel die beiden Schüler von ihrer Teilnahme bei der ZukunftsBande mitnehmen konnten – und wie sehr sich Studentin Sherry, die die beiden sich als ZukunftsCoach ausgesucht hatten, eingebracht hat. „Wenn man den beiden Jungs zuhört, wie sie über ihre Coachin sprechen, bekommt man den Eindruck, wir hätten in diesem Jahr wohl mindestens eine Superheldin im Programm gehabt“, sagt Korte-Riepe augenzwinkernd. Die Studentin hat die Lage der beiden erkannt und vor allem ihren Willen, das Ruder doch noch rumzureißen ernst genommen. Sie hat den beiden etwas nähergebracht, was ihnen bislang nicht gut gelungen war: Struktur im Schulalltag. Einer der beiden Jungs erzählt: „Sie hat Monats-, Wochen und Tagespläne mit uns erstellt – wann mache ich Hausaufgaben, wann bereite ich mich auf Prüfungen vor? Das war das, was uns gefehlt hat!“

Andere unterstützen, ihnen zuhören und etwas beitragen zu können, das sind unter anderem Beweggründe, um bei der ZukunftsBande teilzunehmen. Der 21-jährige ZukunftsCoach Finn aus dem aktuellen Programmjahr sagt dazu zum Beispiel: „Wie soll es jetzt für mich weitergehen? Wo will ich hin? Das sind Fragen, die sich jeder nach der Schule stellt. Mich haben meine Eltern bei der Berufsorientierung unterstützt, aber das muss ja nicht bei jedem so sein, da möchte ich gerne was zurückgeben.“ Und warum nehmen Schüler*innen am Programm teil? „Ich war verzweifelt wegen meines Bildungswegs und ich möchte es schaffen, bei Bewerbungen ein perfektes Bild von mir zu zeigen“, sagt ein 16-jähriger Schüler.

In allen Programmen der Zukunftsstiftung Bildung ist immer wieder festzustellen: Das, was die jungen Menschen mitnehmen, ist individuell – es sind jedoch immer Aspekte der Persönlichkeitsstärkung und -entwicklung dabei, die die weitere schulische, berufliche und persönliche Entwicklung positiv beeinflussen können und dazu beitragen, Resilienz stärken.

Das Engagament von ZukunftsCoach Sherry hat sich übrigens gelohnt, denn die beiden Schüler haben mit ihrer Hilfe das aktuelle Schuljahr gut geschafft und wollen nun sogar in Richtung Abitur gehen. Sherry: „Ich habe ihnen gar nichts Neues beigebracht, sondern ihnen nur gezeigt, wer sie auch sein können.“ So schaffen die Begegnungen im Peer-Learning-Setting durch Soziales Lernen auch die Basis für fachliches Lernen und schulisches Gelingen.

 

Text: Dr. Kristin Behnke, Verena Waldhoff

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Tipp 1

„Die Methodenkartei“ ist ein Kooperationsprojekt an den Universitäten Oldenburg und Vechta. Unter der Rubrik „Soziales Lernen“ sind dort rund 20 Methoden aufgelistet und angeleitet, die man in pädagogischen Settings in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wunderbar einsetzen kann.
Zur Uni Oldenburg


Tipp 2

„Monstermäßig“ ist ein Kartenset, das die LAG Jungenarbeit NRW ursprünglich für die geschlechtersensible Arbeit mit Jungs entwickelt hat. Die schön gestalteten Methoden-Karten, die man sich online kostenlos downloaden und ausdrucken kann, lassen sich aber auch gut für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aller Geschlechter einsetzen: Sympathische Monster auf 14 Karten zeigen verschiedene Anteile und Facetten von uns allen und laden zum Gespräch ein.
Zur LAG Jungenarbeit NRW


Tipp 3

Das Österreichische Zentrum für Persönlichkeitsbildung und Soziales Lernen (ÖZEPS) versucht in seiner Arbeit eine Brücke zwischen Wissenschaft und schulischer Realität zu bauen, u.a. durch Handreichungen, die online zur Verfügung stehen, z.B. zu diesen Themen: „Gewaltpräventation an Schulen. Persönlichkeitsbildung und soziales Lernen“ und „Persönlichkeitsstärkung und soziales Lernen im Unterricht“.
Zum ÖZEPS

Literatur:

  • ÖZEPS. Österreichisches Zentrum für Persönlichkeitsbildung und soziales Lernen: https://www.oezeps.at/a187.html.
  • Robert Bosch Stiftung (2024). Deutsches Schulbarometer: Befragung Lehrkräfte. Ergebnisse zur aktuellen Lage an allgemein- und berufsbildenden Schulen. Robert Bosch Stiftung.
  • Schnetzer, Simon; Hampel, Kilian; Hurrelmann; Klaus (2024). Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024: Verantwortung für die Zukunft? Ja, aber“. Datajockey Verlag, Kempten.

 

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