05.03.2024
"Ich möchte für die Grundschulkinder den Alltag leichter machen!"
Warum die Leseförderung ein weiterer zentraler Schwerpunkt im Peer-Learning-Programm BildungsTandems der Zukunftsstiftung Bildung ist...
Lesen ist eine Grundvoraussetzung für Teilhabe und Partizipation. Doch die Ergebnisse der aktuellen IGLU-Studie zeigen, dass rund ein Viertel der Viertklässler*innen in Deutschland über unzureichende Lesekompetenzen verfügt, die für den erfolgreichen Übergang vom „Lesen lernen“ zum „Lesen, um zu lernen“ notwendig sind. Die Voraussetzungen sind schon beim Schuleintritt nicht für alle Kinder gleich, denn der Bildungserfolg ist in Deutschland immer noch überproportional stark mit dem sozioökonomischen Hintergrund oder der Herkunft der Eltern verknüpft. Nicht selten haben Kinder dann auch erschwerte Startchancen, wenn es um den Aufbau von Lesekompetenzen geht.
Die Zukunftsstiftung Bildung nimmt die Stärkung von Lesemotivation und Lesekompetenz in ihrem Peer-Learning-Programm BildungsTandems daher ab sofort stärker in den Blick und reagiert damit auf die dringenden Bedarfe in der Bildungslandschaft.
Ein Ortsbesuch.
Ziemlich leise ist es in dem Klassenzimmer, in dem heute vier Coachs der Erich-Kästner-Schule Bochum mit acht Coachees der Waldschule Bochum ihre gemeinsame Zeit verbringen. Aber beim Blick in die fröhlichen Gesichter der Kinder wird sofort klar: Bei diesem "ruhigen" Tandemtreffen im Peer-Learning-Programm BildungsTandems fühlen sich alle Anwesenden wohl und arbeiten gerne und konzentriert miteinander.
"Wir machen einen Deal", sagt an einem Gruppentisch gerade ein Coach zu seinem Coachee. "Ich lese immer erst den Text auf der linken Seite und du liest dann die rechte Seite vor." Zwei 15-Jährige von der Gesamtschule sitzen hier zusammen mit zwei Viertklässlern. "Wir lesen besser in einer kleinen Gruppe", erklärt einer von ihnen.
Diese Form der Leseförderung ist ein weiterer zentraler Schwerpunkt des Programms BildungsTandems der Zukunftsstiftung Bildung. Hier werden ältere Schüler*innen dazu befähigt, mit jüngeren Kindern leicht zugängliche Lese- und Sprachübungen durchzuführen und Viertklässler*innen beim Schulübergang zu begleiten und zu unterstützen. Das Peer-Setting ist dabei besonders gut dafür geeignet, um Lesemotivation herzustellen, da die älteren Jugendlichen relevante Rollenmodelle für die Grundschüler*innen darstellen.
Grundsätzlich geht es in den Peer-Begegnungen zunächst einmal um einen intensiven Beziehungsaufbau zwischen den "Großen" und den "Kleinen". Die Begegnungen stärken das Verantwortungsgefühl und die Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden und tragen dazu bei, dass Grundschüler*innen auf ihrem Weg des Schulübergangs ausreichende Unterstützung erfahren. Mittlerweile geht es zudem auch darum, dass in den Aktivitäten der BildungsTandems die gemeinsame Zeit für das Lesen mitgedacht wird. Die Leseaktivitäten der Kinder und Jugendlichen stützen sich dabei auf die drei Säulen Leseflüssigkeit, Textverstehen und Wortschatzerweiterung.
"In den Lautleseverfahren, die wir mit den jugendlichen Coaches durchführen, erproben sie verschiedene Lesetechniken, mit denen man sich einen Text aneignen kann. Durch die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen bilden wir ein niedrigschwelliges Angebot, dass je nach Kompetenz auch einfach oder komplex aufgebaut werden kann", sagt Anika Anders vom Programmteam BildungsTandems der Zukunftsstiftung Bildung.
Die Fähigkeit, Texte zu lesen und zu verstehen, hängt aber nicht allein von kognitiven Faktoren oder vom Einsatz der Lesestrategien ab, sondern auch von weiteren Merkmalen wie der Lesemotivation. Empirische Studien haben gezeigt, dass die intrinsische Lesemotivation zu Beginn der Grundschulzeit höher ausgeprägt ist und dann im Laufe der Grundschulzeit abnimmt.
Die Coachs in den BildungsTandems wissen, dass das Lesen für manche Grundschulkinder noch sehr anstrengend ist und gehen ganz individuell auf ihre Coachees ein. "Guck mal, auf der nächsten Seite geht’s um ein Flugzeug. Bist du schon mal geflogen?" "Ja, das war voll cool!" Schon entsteht ein angeregtes Gespräch am Tisch, erst danach wird weitergelesen.
Auch Anika Anders steigt bei den Trainings der Coachs zur Leseförderung motivierend und alltagsnah in das Thema Lesen ein. Dabei werden sie mit Fragen konfrontiert wie "Wo im Alltag begegnet euch das Thema Lesen?", "Welche Songtexte bewegen euch?" und "Was sind die Geschichten hinter euren Lieblingsfilmen und -spielen?". Schnell wird klar, dass das Thema Lesen eng mit unserem täglichen Leben verbunden ist und darüber hinaus der Stoff ist, aus dem das entsteht, für das wir uns begeistern.
Sobald die Jugendlichen Feuer und Flamme für das Lesen geworden sind, können sie auch ihre Coachees an den Grundschulen begeistern. In den gemeinsamen Trainings zur Vorbereitung der Coachs äußert sich eine Jugendliche: "Ich habe selbst eine Leseschwäche und weiß deshalb genau, wie sich das anfühlt. Schon deshalb möchte ich die Grundschulkinder unterstützen, besser im Lesen zu werden, um für sie den Alltag leichter zu machen."
Durch die gemeinsame Arbeit in den Tandem-Kleingruppen können die individuellen Interessen und Lernvoraussetzungen der Schüler*innen berücksichtigt werden und die Coachs haben bei der persönlichen Begleitung einen nahen Bezug zu dem, was ihre Coachees interessiert. Eine Viertklässlerin der Waldschule sagt: "Ich kann eigentlich ganz gut lesen, aber manchmal brauche ich Hilfe. Wenn ein Lehrer vor der Klasse steht, ist er so weit weg und wir sind so viele Kinder. Das ist mit den Coachs besser."
Zudem wird durch die Peer-Learning-Erfahrung die Selbstbestimmung der Kinder und Jugendlichen hervorgehoben, da sie selbst entscheiden können, was und wann sie lesen und wie sie mit Texten arbeiten möchten. Positive Lernerfolge können zukünftig in den BildungsTandems durch Materialien wie die "Leseraupe" sichtbar gemacht werden. Dabei erhalten die Kinder ein Set bestehend aus einer Schnur und Kugeln, auf die sie nach bestimmten Lernleistungen eine Perle setzen dürfen. Dieses Anerkennungssystem fördert die Motivation und ermöglicht, Lernfortschritte zu dokumentieren.
Insbesondere Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte spielen eine wichtige Rolle bei den Bemühungen um eine verstärkte Leseförderung. Im Rahmen von Schulungen und Workshops unterstützt die Zukunftsstiftung Bildung sie darin, sich mit verschiedenen Angeboten zu den Themen Lesemotivation und Lesefreude vertraut zu machen und diese im Unterricht anzuwenden.
Natürlich hängt es auch von den Ideen und dem Engagement der jeweiligen Fachkräfte und Einrichtungen ab, wie Leseförderung gestaltet werden kann. Der Offene Ganztag der Waldschule Bochum zum Beispiel hat insgesamt einen stärkeren Fokus auf die Leseförderung gelegt, kooperiert dabei mit den Eltern und lädt Familien zum gemeinsamen Lesen ein. Kurzerhand wurde dafür eine eigene Bibliothek aufgebaut mit verschiedenen Muttersprachen – Kinderbücher auf Kurdisch, Arabisch, Deutsch, Syrisch und Türkisch sind dort zu finden.
Text: Anika Anders, Dr. Kristin Behnke, Verena Waldhoff
Quellen:
- Seifert, S.,Paleczek, L. & Gasteiger-Klicpera, B. (2022). Diagnostik und Differenzierung im Leseunterricht. In M. Gebhardt, D. Scheer & M. Schurig (Hrsg.), Handbuch der sonderpädagogischen Diagnostik. Grundlagen und Konzepte der Statusdiagnostik, Prozessdiagnostik und Förderplanung (S.683-696). Regensburg: Universitätsbibliothek. doi.org/10.5283/epub.53149
- McElvany, N., Lorenz, R., Frey, A., Goldhammer, F., Schilcher, A. & Stubbe, T. (Hrsg.). (2023). IGLU 2021. Lesekompetenzen von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre. Waxmann.
- Goy, M., Valtin, R.; Hußmann, A. (2017). Leseselbstkonzept, Lesemotivation, Leseverhalten und Lesekompetenz. In: Hußmann, Anke et al.: IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster ; New York : Waxmann 2017, S. 143-175.
- McElvany, N., Kortenbruck, M. & Becker, M. (2008). Lesekompetenz und Lesemotivation: Entwicklung und Mediation des Zusammenhangs durch Leseverhalten. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 22, S. 207-219.